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Zu Anna Maria Brandstätters Werkserie: Das Bauwerk "Turm" - Von Jericho bis Dubai

Anna Maria Brandstätter

 

1977 in Amstetten geboren

lebt und arbeitet in St. Nikola

 

www.annamariabrandstaetter.com

 

 

 

 

 

Turm Nr. 7, 2024

Tusche auf Papier

65 x 50 cm

 

Abbildung: c) Anna Maria Brandstätter

Seine Existenz ist nicht eindeutig geklärt und bleibt im Narrativen, aber vielleicht deshalb handelt es sich bei einem der bekanntesten Türme der Menschheitsgeschichte um jenen der mythischen Erzählung des „Turmbau zu Babel“. Zahlreiche künstlerische Interpretationen und die im Laufe der Jahrhunderte entstandenen Darstellungen verankerten ihn im kollektiven Gedächtnis. Die Bibel als Quelle der kurzen Episode berichtet im ersten Buch Mose von Menschen, die nur eine einzige Sprache kannten und eine „Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel“ errichteten. Gott „verwirrte“ die Bevölkerung und zerstreute sie über die ganze Erdei. Somit war seine Handlung eine theologische Erklärung für die Diversität der Menschheit und ihre unterschiedlichen Sprachen. In der allgemeinen Forschung wird dieses Bauwerk von Babel mit der Ziqqurat (Zikkurat) im Innenhof des Marduk-Tempels in Verbindung gebrachtii. Seit dem 5. Jahrtausendiii waren stufenförmige, einer Gottheit gewidmete Türme in Mesopotamien gebräuchlich und der Ausdruck Zikkurat bedeutete im babylonischen Sprachgebrauch „hochaufragend, Himmelsberg, Götterbergiv.

 

Archäologisch gesichert und somit als der älteste als solcher Benannte, gilt der im 9. Jahrtausend errichtete 8,25 m hohe und im Durchmesser 8 m fassende, erhaltene „Turm von Jerichov. Seine damalige Funktion ist noch nicht geklärt, aber die oft für frühkulturelle Monolithen und Säulen gebräuchliche Interpretation eines Phallussymbols und der männlichen Fruchtbarkeit, überzeugt in diesem Falle nicht. 22 Stufen in seinem Inneren lassen einen funktionalen Gebrauch erahnen und negieren jegliche Form einer Verwendung als sichtbares männliches Symbol. Vielmehr entspricht es eher dem Prinzip mit Hilfe eines erhöhten Standpunktes ein größeres Gebiet zu überblicken - deshalb sicher auch in Burgen oder Landschaftsmarken errichtet – und so den Feind von Weitem zu sehen und auch von „oben“ herab zu bekämpfen. Die in Kriegszeiten errichteten Flaktürme zeugen in manchen Städten auch heute noch von diesem Charakteristikum. Eine friedliche Tradition entwickelte sich aus der weite Landschaften überblickenden Eigenschaft eines erhöhten Bauwerkes: Die Aussichtstürme verschiedener Orte und Städte, wobei sicherlich der „Eiffelturm“ (errichtet 1887-1889) in Paris ein prominenter Vertreter ist.

 

Das Bauwerk „Turm“ definiert sich als Gebäude, dessen Höhe die Breite seines Grundrißes übersteigt und auch auf irgendeine Weise begehbar ist, sei es durch eine Treppe von innen oder Außen. Aus seinem lateinischen Wort „turrisvi“ und seiner Akkusativform „turrimvii“, dürfte sich das althochdeutsche „turn“, später das mittelhochdeutsche „turn“ und regionale Abwandlungen entwickelt haben. Die weitgehende Schriftform von offiziellen Dokumenten blieb bis zu Martin Luthers (1483-1546) für die deutsche Sprache prägende Übersetzung der Bibel aber Latein. Der Siegeszug seiner Translation bildete die Grundlage für das allgemeine Hochdeutsch und festigte auch den deutschen Namen für das Bauwerk, das er mit „Turm“ übersetzt hatteviii.

 

Nicht nur die kriegerische Verteidigung gilt als Anstoß zur Errichtung eines erhöhten Bauwerkes, sondern auch die Funktion als ein sichtbares Zeichen und somit eine Orientierung in einer weiten Landschaft waren Gründe für die Konstruktion eines Turmes. So wiesen die mit ihren im Obergeschoß entzündeten Feuern errichteten Leuchttürme den Weg über die von Wellenbewegungen und Strömungen des Meeres und der Seen gezeichneten Ufern. Der zu den sieben Weltwundern der Antike zählende „Pharos von Alexandria“ war der erste historisch dokumentierte Leuchtturm seiner Artix und war wie die später weltweit errichteten, ein Garant für die möglichst sichere Orientierung. Aufgrund der nautischen Entwicklungen wären diese zwar nicht mehr in diesem Ausmaß nötig, aber oft haben sie heute noch den Charakter einer Aussichtsplattform.

 

Die an christlich sakralen Bauwerken oft angeschlossenen Türme – sei es nun als singulärer Glockenturm oder als Westwerk – sind nicht nur weithin sichtbare Zeichen des Gotteshauses, sondern waren in verschiedenen Phasen der christlicher Bautradition, teils prägender errichtet oder stärker vernachlässigt worden. Die Tradition hatte sich erst im 6. Jahrhundert entwickelt, als in Italien freistehende Glockentürme – sogenannte Campanilex - neben Kirchen errichtet wurden. Die Sinnhaftigkeit der architektonischen Nutzbarkeit wurde bis dato nicht ausreichend geklärt, aber die bessere Hörbarkeit des Glockengeläutes und das als weithin sichtbare Zeichen des Gotteshauses mögen Indikatoren gewesen sein. Ähnlich interpretiert können die ab dem 7. Jahrhundert erbauten Minarette der islamischen Glaubensgemeinschaft werden. Die Rufe der Muezzinxi sind möglicherweise deshalb von Weitem hörbar und der Standort der Moschee ist deutlich sichtbar.

 

Wie sehr ein Turm auch immer wieder ein Zeichen und Symbol in der Landschaft ist, erzählen die in buddhistischen, asiatischen Gebieten errichteten Pagodenxii, die nur in Europa so bezeichnet werden. Natürlich benennt jedes asiatische Kulturland sie in seiner jeweiligen Sprache, aber sie bedeuten immer einen freistehenden sakralen Turmbau, der eng mit dem Grabdenkmälern und Reliquien erleuchteter Mönche verbunden istxiii. Damit sind sie ein interpretorischer Gegensatz zu verwirklichten hohen Bauwerke: Ob im positiven oder im negativen Sinn dienen Türme immer einem aktiven Leben im Hier-und-Jetzt. Diese Pagoden sind Erinnerung an ein verblichenes Leben, das auch in der Nachwelt denkwürdig bleiben soll.

 

Dass die Errichtung eines Turmes auch mit negativen Assoziationen verbunden werden kann, zeigen Ordensgemeinschaften wie die Zisterzienser, Dominikaner und Franziskaner, die den Bau aufgrund seiner Bedeutung der Demonstration der Macht und Größe des Hauses für ihre Klöster ablehntenxiv. Genau diese beiden vermittelten Charakteristika waren die Ausgangspunkte der Präsenz der oberitalienischen „Geschlechtertürme“, die ab dem 11. Jahrhundert und in den beiden folgenden Jahrhundert in den Städten errichtet wurden. Sie waren aber nicht nur ein sichtbares Zeichen der einzelnen vermögenden Familien, sondern auch sicherer Rückzugsort in die oberen Geschossen bei Kampfhandlungen. Eine ähnlich verteidigende Rolle spielten auch die mittelalterlichen Bergfriede (Burgfried), die bei einem Angriff für die Bewohner ein sicherer Zufluchtsort in der Höhe darstellte und eine Verteidigung auf das Untergeschoß minimierte. In einen negativen Kontext für die menschlichen „Verwahrung“ in einem nur bodennah zu betretenden Bauwerkes, waren die meist zur Befestigungsanlage gehörenden, sogenannten Schuldtürme. Der noch erhaltene Schuldturm von Nürnberg (1323)xv ist ein Beispiel für das bis ins 19. Jahrhundert praktiziertes Gefängnis für Menschen, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkamenxvi.

 

Das Bedürfnis einen Turm als sicherer Ort der Bevölkerung oder zu deren Bestrafung, als Überblick über eine Landschaft oder als ein richtungsweisendes Zeichen der Orientierung, sowie ein markantes Symbol zur Demonstration der Macht oder der Größe zu errichten, haben sich in der Neuzeit geändert. Gerade die oft in Städten gering verfügbare Fläche sowie der Wunsch möglichst viele Menschen in unmittelbarer Nähe neben einander wohnen oder arbeiten zu lassen und so sich auch auf manche Stadtviertel zu konzentrieren, waren prädestiniert Hochhäuser zu errichten. Die ersten Wolkenkratzer waren das Vermögen der Architekten und der Statiker, die alle Möglichkeiten ausloten. Am Ende der Entwicklung steht nun das höchste Gebäude der Welt: Der bis 2009 errichtete Burj Khalifa in Dubai erreicht die endgültige Höhe von 828 mxvii.

 

So vielfältig die Charakteristika eines Turmes im Laufe der Geschichte waren und sind, bestehen sie doch aus einem Streben nach dem Himmel. Sei es ideologisch oder praktisch nötig.

 

 

iGenesis, 1. Buch Moses, 11,4 – 11,9

ii Archäologisches Lexikon, hrsg von Avraham Negev, Jerusalem 1986, S 54

iiihttps://de.wikipedia.org/wiki/Zikkurat, abgerufen am 29. 5. 2024

ivhttps://de.wikipedia.org/wiki/Zikkurat, abgerufen am 29. 5. 2024

vhttps://de.wikipedia.org/wiki/Turm_von_Jericho, abgerufen 28. 5. 2024, dort: 9. Jahrtausend. Der Artikel des Standards datiert ihn sogar um 11.000 v. Chr. https://www.derstandard.at/story/1297818523064/raetsel-von-jericho-11000-jahre-alter-turm-war-waechter-gegen-die-maechte-der-finsternis, abgerufen am 2. Juni 2024;

vihttps://www.duden.de/rechtschreibung/Turm#synonyme, abgerufen am 31. Mai 2024

viihttps://www.wissen.de/wortherkunft/turm, abgerufen am 31. Mai 2024

viiihttps://www.dwds.de/wb/Turm, abgerufen am 31. Mai 2024

ixIm Mittelalter war er bereits zerstört aber einen exakten Zeitpunkt kann die Forschung bis dato nicht überzeugend nennen.

xCampangnile: Vom italienischen Wort für Glocke: Campagne

xihttps://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/islam-lexikon/21541/minarett/, abgerufen am 29. 5. 2024

xiiKunst – und Stilfibel, Hrsg. Von Rudolf Broby-Johansen, München 1988, S 237

xiiihttps://de.wikipedia.org/wiki/Pagode, abgerufen am 29. 5. 2024

xivhttps://de.wikipedia.org/wiki/Kirchturm#:~:text=Ein%20Kirchturm%20ist%20der%20zu,Turm%20keine%20theologische%20Begr%C3%BCndung%20gibt., abgerufen am 29. Mai 2024

xvhttps://de.wikipedia.org/wiki/Schuldturm_(N%C3%BCrnberg), abgerufen am 31. Mai 2024

xvihttps://de.wikipedia.org/wiki/Schuldgef%C3%A4ngnis, abgerufen am 31. Mai 2024 

xviihttps://de.wikipedia.org/wiki/Burj_Khalifa, abgerufen am 28. 5. 2024

Gabriele Baumgartner

2024